Buchkritik von Paul Jekat zu Caroline Wahls – 22 Bahnen

Caroline Wahls Debütroman 22 Bahnen ist ein leises, eindringliches Porträt einer jungen Frau, die zwischen Verantwortung, Sehnsucht und der Suche nach einem eigenen Platz im Leben gefangen ist. Wahl schreibt mit einer Klarheit, die nichts beschönigt und doch eine subtile Wärme ausstrahlt. Das Buch entfaltet seine Wirkung nicht durch große Handlungsbögen, sondern durch die dichte, atmosphärische Darstellung einer Welt, in der das Alltägliche schwer wiegt.

Eine Welt zwischen Enge und Pflicht

Die Geschichte spielt in einer Kleinstadt in der ostdeutschen Provinz. Protagonistin Tilda, Anfang zwanzig, studiert Mathematik und kümmert sich nebenbei um ihre kleine Schwester Ida und die alkoholkranke Mutter. Diese familiäre Enge prägt den Roman von der ersten Seite an. Wahl beschreibt das Leben zwischen Bahnübergang, Schwimmbad und Supermarkt mit einer beeindruckenden Beobachtungsschärfe. Das Becken, in dem Tilda jeden Tag ihre 22 Bahnen zieht, wird zur Metapher ihrer Existenz: kontrollierte Bewegung in begrenztem Raum, ein Versuch, Halt zu finden im rhythmischen Gleiten durch das Wasser.

Wahls Sprache bleibt dabei unaufgeregt, fast spröde, aber nie leer. Sie fängt die Kälte der Umgebung ein, ohne ihre Figuren bloßzustellen. Die Mutter ist keine Karikatur des Scheiterns, sondern eine tragische Figur, deren Hilflosigkeit Tildas Zerrissenheit nur verstärkt. Ida, das kleine Mädchen, ist zugleich Anker und Fessel – ein unschuldiges Wesen, das Tilda zwingt, stark zu bleiben, obwohl sie selbst kaum Kraft hat.

Struktur und Rhythmus

Der Roman ist präzise gebaut. Caroline Wahl wechselt zwischen nüchternen Beobachtungen, Dialogfragmenten und inneren Reflexionen. Die Erzählweise folgt Tildas Perspektive, ohne sich sentimental zu verlieren. Das Schwimmbad, der Supermarkt, das Elternhaus – sie alle bilden einen Mikrokosmos, in dem die gesellschaftliche Realität der Provinz sichtbar wird: Arbeitslosigkeit, Resignation, Alkoholismus, aber auch eine stille Beharrlichkeit.

Wahl gelingt es, in diesen begrenzten Räumen eine universelle Geschichte zu erzählen. Die „22 Bahnen“ stehen nicht nur für Disziplin, sondern auch für das Bedürfnis, Kontrolle über ein Leben zu gewinnen, das von Verpflichtung und Verlust geprägt ist. Jeder Tag, jede Bahn wird zur Übung im Aushalten.

Begegnung und Aufbruch

Einen Wendepunkt erfährt Tildas Leben durch die Begegnung mit Viktor, einem jungen Mann, der neu in der Stadt ist. In den zaghaften Momenten der Annäherung zeigt sich, wie vorsichtig Tilda geworden ist – wie misstrauisch gegenüber jeder Form von Nähe. Ihre Liebe ist kein romantischer Ausbruch, sondern ein zögerndes Tasten, ein leises Fragen nach Möglichkeit.

Caroline Wahl lässt offen, ob diese Begegnung Erlösung bringt. Statt eines klassischen Happy Ends bleibt die Hoffnung im Zwielicht. Tilda steht am Ende vor der Entscheidung, ob sie bleibt oder geht, ob sie ihr Leben selbst in die Hand nimmt. Der Roman verweigert jede einfache Antwort und gerade das verleiht ihm seine Kraft.

Stilistische Stärke und emotionale Genauigkeit

Wahl schreibt in einer Sprache, die reduziert, aber nicht karg ist. Jedes Wort sitzt. Sie verzichtet auf große Gesten, ihre Figuren sprechen durch das, was sie nicht sagen. Diese Zurückhaltung verleiht dem Text Tiefe. Der Schmerz, die Überforderung, die zähe Hoffnung – all das bleibt spürbar, ohne je benannt werden zu müssen.

Als Lektor beeindruckt mich besonders die handwerkliche Disziplin des Textes: keine Passage wirkt überflüssig, kein Dialog gekünstelt. Wahl versteht es, Spannung in den kleinen Dingen zu erzeugen – in einem Blick, einem Griff, einer Bewegung im Wasser. 22 Bahnen ist kein Buch, das laut auf sich aufmerksam macht, sondern eines, das bleibt, weil es das Wesentliche trifft.

Ein Debüt mit Nachhall

22 Bahnen ist ein stilles, aber starkes Debüt über Verantwortung, Schuld und Selbstbehauptung. Es erzählt von einer jungen Frau, die lernen muss, sich aus den familiären Verstrickungen zu lösen, ohne die Liebe zu den Menschen, die sie geprägt haben, zu verlieren. Caroline Wahl gelingt dabei ein realistischer, fast filmisch verdichteter Blick auf das Erwachsenwerden unter schwierigen Bedingungen – ohne Pathos, aber mit großer Menschlichkeit.

Wer das Buch gelesen hat, wird verstehen, dass Tildas Geschichte nachklingt – auch über die letzte Seite hinaus. Umso größer ist die Neugier auf die filmische Umsetzung, die den emotionalen Kern dieser Erzählung hoffentlich bewahrt.

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Buchrezension von Dr. Sebastian Voigt: „52 kleine und große Eskapaden in und um München“ von Nadine Ormo (Dumont)

Wer wie ich das Wandern und das Erkunden der Natur als Auszeit von beruflichem und städtischem Alltag versteht, der sucht nicht nur nach bekannten Touren, sondern nach echten Inspirationen. „52 kleine und große Eskapaden in und um München“ hat mich als passionierten Freizeitwanderer dabei komplett angesprochen. Das Buch liefert genau das, was der Titel verspricht: Eskapaden, kleine Fluchten aus dem Gewohnten, die einen neuen Blick auf die eigene Region ermöglichen.

Das Buch ist klar gegliedert und übersichtlich gestaltet. Jede Eskapade wird mit einem einleitenden Teaser, einer prägnanten Übersicht zu Länge, Dauer, Anforderung und Anreise sowie mit liebevollen Beschreibungen der Route vorgestellt. Besonders angenehm finde ich die persönliche Note der Autorin, die nicht nur nüchtern Fakten aufzählt, sondern kleine Geschichten, Hintergründe oder kulinarische Tipps am Wegesrand teilt.

Die Eskapaden sind thematisch und regional vielfältig. Einige Touren führen in nahegelegene Münchner Park- und Auenlandschaften, andere in das Fünfseenland oder bis tief hinein ins Voralpenland. Die Mischung aus kurzen Spaziergängen, Halbtages- und Ganztageswanderungen sorgt dafür, dass ich – je nach verfügbarer Zeit und Lust auf Anstrengung – stets eine passende Tour finde.

Mein Eindruck nach dem Lesen: Inspirierend und verbindend

Schon beim Lesen hat mich die Vorfreude gepackt. Einige der beschriebenen Touren, wie die Umrundung des Eibsees, kannte ich bereits und war positiv überrascht, wie treffend die Autorin Atmosphäre und Besonderheiten beschreibt. Andere Strecken hingegen standen bisher nicht auf meiner Liste und haben meine Neugier geweckt.

Ich merke, wie das Buch nicht nur meine private Auszeit bereichert, sondern auch zum Austausch anregt. In meiner Wandergruppe habe ich bereits einige der Vorschläge für Ausflüge vorgestellt, was sofort zu Begeisterung und Planungen für kommende Wochenenden führte. Genau das liebe ich: die geteilte Vorfreude, das Erleben vor Ort und das Nachklingen im Gespräch danach.

Stärken:

  • Übersichtlichkeit und praktische Angaben, perfekt für schnelle Planung
  • Inspirierende Texte, die nicht belehrend, sondern motivierend wirken
  • Große Vielfalt an Zielen, Längen und Schwierigkeitsgraden
  • Gelungene Balance zwischen bekannten Klassikern und echten Geheimtipps

Fazit:

„52 kleine und große Eskapaden in und um München“ ist ein wunderbares Buch für alle, die München und sein Umland aktiv erleben möchten – egal ob Neumünchner, Rückkehrer oder Alteingesessene. Es motiviert, die Komfortzone zu verlassen und Neues zu entdecken, ohne gleich eine große Reise planen zu müssen. Ein inspirierender Begleiter für meine künftigen Wanderwochenenden – und die noch unentdeckten Eskapaden warten bereits darauf, von mir erlebt zu werden.

Stadt der goldenen Schatten von Tad Williams

Im späten 21. Jahrhundert hat sich das globale Netzwerk zu einer virtuellen Realität (VR) entwickelt, in die man sich einfach nur einloggen muss. Für die meisten Menschen, insbesondere für Kinder und Jugendliche, ist diese Form der „Freizeitgestaltung“ vollkommen selbstverständlich geworden, weshalb sie den Großteil der Zeit lieber im VR als in der Realität verbringen.

Doch gibt es Anzeichen dafür, dass irgendetwas Merkwürdiges im VR vor sich geht. Denn auf der ganzen Welt fallen vereinzelt Kinder in ein Koma, während sie sich im VR aufhalten. Familien einiger Opfer, die der Ursache auf den Grund gehen möchten, werden bedroht oder kommen unter merkwürdigen Umständen zu Tode.

Doch wer hat so viel Macht und Einfluss, um diese „Unfälle“ zu inszenieren?
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Die letzte Zeugin von Nora Roberts

Die 16-jährige Elizabeth Fitch ist alles andere als ein typischer Teenager: Das hochintelligente Mädchen ist in jeder Hinsicht ein Genie. Das Wichtigste in ihrem Leben fehlt ihr jedoch: die Liebe ihrer Mutter, die für Elizabeth keinerlei Zuneigung empfindet. Radikal schneidet sie sich nach einem Wutanfall ihre lange Mähne ab und freundet sich während einer Shoppingtour mit Julie an.  Die letzte Zeugin von Nora Roberts weiterlesen

Die Haarteppichknüpfer von Andreas Eschbach

Haarteppiche für den Kaiser! So lautet die Devise für eine besondere Kaste von Webern, die auf einem vorindustriellen Planeten unter schwersten Umständen und religiösem Druck ihr Lebenswerk fertigstellen. Diese Haarteppichknüpfer leben vom Ersparten ihrer Väter und müssen ihr ganzes Leben damit haushalten. Als wäre das nicht schon schwer genug, haben sie dazu in der Regel noch mehrere Frauen und Töchter zu versorgen. Denn ihre Haare bilden den Hauptbestandteil des Teppichs. Die Haarteppichknüpfer von Andreas Eschbach weiterlesen

Der Trafikant von Robert Seethaler

Die Zeit des Müßiggangs ist für den siebzehnjährigen Franz Huchel vorbei, als der Geliebte seiner Mutter im österreichischen Attersee von einem Gewitter überrascht wird und ertrinkt. Der Liebhaber hat bisher mit einem monatlich ausgestellten Scheck Mutter und Sohn ein bescheidenes Auskommen ermöglicht…  Der Trafikant von Robert Seethaler weiterlesen