Samira Langer-Lorenzani ist Pädagogin mit Spezialisierung auf die therapeutische Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit traumatischen Lebenserfahrungen. Ihr Schwerpunkt liegt auf der stabilisierenden Begleitung im familiären und sozialen Umfeld sowie der Förderung individueller Entwicklungsprozesse.
Die Fachwelt der Heilpädagogik ist reich an Konzepten, Begriffen und Positionierungen, doch selten gelingt es einer Autorin, diese mit solcher Klarheit und Praxisnähe aufzuarbeiten wie Maja Nollau in ihrem Buch „Kinder mit herausforderndem Verhalten: wahrnehmen – verstehen – begleiten“. Für alle Fachkräfte, die mit Kindern arbeiten, deren Verhalten nicht in das gängige Raster sozialer Erwartungen passt, ist dieses Werk nicht nur ein methodisches Kompendium, sondern ein Appell zur Haltung.
Was dieses Buch von vielen anderen im Feld unterscheidet, ist die konsequente Abkehr von vorschnellen Zuschreibungen. Gleich zu Beginn macht Nollau deutlich, dass „auffälliges Verhalten“ keine objektive Kategorie ist, sondern maßgeblich durch gesellschaftliche und institutionelle Kontexte definiert wird. Diese Relativierung ist heilsam – gerade in einer Praxis, die mitunter dazu neigt, Kinder zu etikettieren, bevor sie verstanden wurden.
Die Autorin fordert die Leserinnen und Leser dazu auf, genau hinzusehen, sich Zeit zu nehmen für die Biografie des Kindes und seine Lebenswelt. Dieses Anliegen zieht sich wie ein roter Faden durch alle Kapitel des Buches und ist getragen von einem tiefen Respekt vor kindlicher Entwicklung – ein Ansatz, der auch in meinem beruflichen Alltag eine tragende Rolle spielt.
Theoretische Fundierung ohne theoretische Schwere
Das Buch liefert eine erstaunlich breite und zugleich gut strukturierte Übersicht über verschiedene Erklärungsansätze für herausforderndes Verhalten. Dabei gelingt es der Autorin, theoretische Tiefe mit einer gut lesbaren Sprache zu verbinden. Für Fachkräfte mit heilpädagogischem Hintergrund ist es wohltuend, ein Buch in den Händen zu halten, das das eigene Vorwissen ernst nimmt, aber nicht mit unnötiger Fachsprache überfrachtet ist.
Die Stärke des Buches liegt in der Verbindung von Theorie und Praxis. Nollau illustriert ihre Überlegungen mit zahlreichen Beispielen aus dem pädagogischen Alltag – ohne dabei in eine simplifizierende „Wenn-dann“-Didaktik zu verfallen. Statt Handlungsanweisungen gibt es Orientierungen. Statt Rezepte gibt es Reflexionshilfen.
Als besonders wertvoll erlebe ich die Kapitel, in denen es um Beziehungsgestaltung geht. Die Bedeutung von sicheren Bindungen, von einer wertschätzenden Grundhaltung und von professioneller Nähe wird hier nicht nur behauptet, sondern nachvollziehbar erläutert. Für alle, die mit Kindern arbeiten, die vielleicht schon mehrere „Hilfesysteme“ durchlaufen haben, ist dies eine essenzielle Erinnerung: Beziehung ist die Grundlage aller pädagogischen Intervention – keine Zusatzleistung.
Relevanz für die heilpädagogische Praxis
Aus meiner Sicht als Kinder- und Jugendpädagogin mit Schwerpunkt auf traumapädagogische Zusammenhänge ist das Buch in mehrfacher Hinsicht anschlussfähig. Auch wenn der Begriff Trauma nicht im Zentrum steht, verweist Nollaus Herangehensweise indirekt auf viele Aspekte, die in der traumasensiblen Arbeit zentral sind.
Wer eine Anleitung zur „Verhaltenskorrektur“ sucht, wird bei Nollau nicht fündig. Und das ist gut so. Denn die Autorin bietet keine Reparaturpädagogik, sondern ein entwicklungsförderliches Handlungskonzept. Der Anspruch ist hoch: Es geht um Haltung, um Selbstreflexion, um kontinuierliche Beziehungsgestaltung. Aber genau das macht dieses Buch so wertvoll.
„Kinder mit herausforderndem Verhalten“ ist ein Buch, das nicht nur Wissen vermittelt, sondern zur Haltung einlädt. Für alle Fachkräfte, die Kinder begleiten, die „herausfallen“ aus dem Raster der Erwartungen, ist dieses Buch eine lohnenswerte Lektüre.